Deal, No-Deal – das britische Binnenmarktgesetz als Sprengstoff

Viele, die die Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich für einen neuen Handelsvertrag nur am Rande verfolgt haben, fragen sich, was auf der Insel los ist. Der britische Premierminister Boris Johnson erklärte, die EU habe ihren ‚Revolver nicht vom Tisch genommen‘, er bringt ein Gesetz auf den Weg, das die Einheit des Königreichs retten soll, aber gleichzeitig internationales Recht bricht, die EU stellt ein Ultimatum.

Die achte offizielle Verhandlungsrunde in London vom 8.-10. September 2020 war überschattet von der britischen Ankündigung eines Gesetzentwurfs, der den mühsam ausgehandelten Austrittsvertrag in Teilen brechen würde. Das neue Binnenmarktgesetz (Internal Market Bill) brachte plötzlich eine explosive Note in die Verhandlungen und den No-Deal-Brexit wieder in die Medien.

Gelber Stern ist auf Asphalt gemalt
Verhandlungen, das britische Binnenmarktgesetz und der Frieden in Nordirland

Die Tagesordnung für die achte Verhandlungsrunde bot die Möglichkeit, strittige Punkte zu klären. Doch dies geschah nicht. EU-Verhandlungsführer Michel Barnier warnte nach der Runde, niemand solle die praktischen, wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen eines No-Deal-Szenarios unterschätzen. Wir wissen nicht, was hinter geschlossenen Türen besprochen wurde, aber laut Barnier habe die EU Flexibilität bei den ‚roten Linien‘ UKs gezeigt, um die Erfolgschancen eines Abkommens zu erhöhen und Lösungen zu finden, welche die Souveränität des britischen Partners respektierten, besonders bei der Rolle des Europäischen Gerichtshofs, der zukünftigen gesetzgeberischen Autonomie und den Fischereirechten. Allerdings habe UK das bei den Prinzipien und Interessen der EU nicht getan. Seine Bemerkung, eine zukünftige Partnerschaft brauche gegenseitiges Vertrauen und Zuversicht, ist im Zusammenhang zu verstehen, dass der britische Gesetzentwurf die Verhandlungen belastet.


Zum besseren Verständnis des Konfliktpotentials sei daran erinnert:

Das Vereinigte Königreich ist eine aus vier Teilen zusammengesetzte Nation mit England, Schottland, Wales und Nordirland. In dem Austrittsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich erhielt Nordirland einen Sonderstatus. Das Abkommen besteht aus zwei Teilen, dem Austrittsabkommen selbst mit dem Sonderteil des Protokolls zu Irland und Nordirland und einer Politischen Erklärung über die zukünftigen Beziehungen zwischen UK und EU. Das Protokoll erforderte besonders schwierige Verhandlungen, weil im Interesse des Friedens auf der irischen Insel vor allem eine harte Landgrenze zwischen Irland als EU-Mitglied und Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs vermieden werden sollte.

Die Wirtschaft der gesamten Insel sollte im Sinne des sog. Karfreitagsabkommens (‚Belfast-Abkommen‘) gesichert werden. Dabei sollte zum einen die Integrität des EU-Binnenmarkts geschützt werden unter Beachtung der Regelungen etwa zu Verbraucherschutz, zu Gesundheit oder zur Bekämpfung von Betrug und illegalem Handel. Zum anderen sollte Nordirland auch im UK-Zollbereich (und natürlich generell dem Vereinigten Königreich) bleiben, damit es z.B. von Handelsabkommen profitieren könnte, die UK mit Drittländern abschließt.

Nahaufnahme eines dicken Seils, welches ein Boot sichert.

Nordirland muss aber an eine begrenzte Anzahl von EU-Regeln vor allem beim Warenverkehr gebunden bleiben. Eine Zollgrenze liegt in der Irischen See und nicht auf dem irischen Festland. Es muss einige notwendige Überprüfungen und Kontrollen geben bei den Gütern, die NI aus dem Rest UKs erreichen, an sog. Border Inspection Posts (BIP), das sind von der EU anerkannte Grenzkontrollstellen wie etwa im Hafen von Belfast. EU-Zollabgabepflicht besteht, wie auch in anderen EU-Ländern, auf Waren, die aus Nicht-EU-Staaten nach NI eingeführt werden, ausgenommen solche, die in UK bleiben und keine Gefahr für den EU-Binnenmarkt darstellen.

Ein Zustimmungsmechanismus über die langfristige Gültigkeit von EU-Gesetzen ist eingebaut durch den Northern Ireland Assembly. Die Nordirland-Versammlung als dezentrale Regierung kann, beruhend auf intensiven Gesprächen zwischen Irland und UK, nach vier Jahren mit einfacher Mehrheit entscheiden, ob EU-Gesetze weiter gelten.


NI würde also weiter Privilegien des EU-Binnenmarkts genießen (wenn auch mit mehr Dokumentationsaufwand), der Rest UKs aber nicht, weil er nicht mehr in der EU ist.

Die komplizierte, jedoch mit praktischer Kooperation und gutem Willen umsetzbare, Vereinbarung ist aber zerbrechlich, etwa wenn Brandon Lewis, Minister für Nordirland (Secretary of State for Northern Ireland), am 8.9.2020 im britischen Unterhaus ein neues Binnenmarktgesetz ankündigt, das die Einheit des Vereinigten Königreichs schützen soll. Die britische Regierung wolle selbst über inner-UK-Handel bestimmen, indem man z.B. einseitig festlegt, dass britische Firmen in NI Staatshilfen bekommen oder Waren ungehindert im Vereinigten Königreich bewegt werden können ohne EU-Kontrollen. Ein Teil der Nation dürfe nicht EU-Regelungen unterworfen sein und damit einen anderen Status haben als der Rest. Man lasse UK nicht von der EU spalten.

Ziel des Binnenmarktgesetzes sei es, Kontinuität und Sicherheit für Unternehmen und Bürger*innen zu schaffen, sowie Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Rahmenbedingungen quer durch ganz UK zu verbessern.

Schon zwei Prinzipien, die auf ganz UK angewendet werden sollen, das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Waren oder Dienstleistungen („mutual recognition“) und das der Nicht-Benachteiligung von Waren aus anderen Teilen UKs („non-discrimination“) widersprechen dem Irland/NI-Protokoll.

Fischer mit Hund stehen am Kai und schauen mit Fernglas auf Meer hinaus.

Das Binnenmarktgesetz würde, nach Aussagen von Lewis, Teile des Protokolls zu Irland und Nordirland nicht mehr akzeptieren bzw. bei Bedarf ändern und missachten. Er wisse, dass man damit ‚internationales Recht breche, aber nur in einer sehr spezifischen und begrenzten Weise‘. Das bedeutet, dass nationale Gesetzgebung über der eines international ausgehandelten Abkommens steht. Damit gab man der EU zu verstehen, man behalte sich vor, sich nicht an einen Vertrag zu halten, wenn es kein Handelsabkommen gebe, sozusagen als `Sicherheitsnetz‘.

Leuchtreklame aus Neonröhren in Form eines Handschlags.

Der Gesetzentwurf, am 09. September im Parlament vorgestellt, stieß schon bei der zweiten Lesung am 14. September auf heftige Kritik von Opposition und einigen Konservativen. Allerdings besitzt Johnsons Regierung nach den Parlamentswahlen vom 12. Dezember 2019 eine so große Mehrheit, dass eine Zustimmung klar war und das Gesetz mit 340 Stimmen zu 263 Gegenstimmen formal auf den Weg gebracht wurde. Es muss mehrere Stadien im Unter- und Oberhaus durchlaufen.

Nach Veröffentlichung des Gesetzentwurfs berief Maroš Šefčovič, Vizepräsident der Europäischen Kommission, eine außerordentliche Sitzung des EU-UK-Joint Committees ein, um von dem Mit-Vorsitzenden des gemeinsamen Ausschusses, Vize-Premierminister Michael Gove, eine Erklärung zu bekommen. Das Statement der Europäischen Kommission über dieses Treffen vom 10.9. in London forderte die vollständige Umsetzung des Austrittsabkommens. Es sei von Johnson und seiner Regierung gebilligt und vom britischen Parlament ratifiziert worden, ein offizielles rechtliches Dokument, seit dem 1. Februar 2020 in Kraft, und könne nicht einseitig geändert werden. Eine Verletzung stelle den Bruch internationalen Rechts dar, würde das Vertrauen untergraben und den Fortgang der Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen gefährden. Das Irland/Nordirland-Protokoll sei Bestandteil dieses Vertrags und solle Frieden und Stabilität auf der irischen Insel garantieren. Šefčovič forderte die britische Regierung auf, den Gesetzesentwurf so schnell wie möglich zurückzunehmen, spätestens bis Ende September, d.h. die EU stellte ein Ultimatum.

Johnson wies diese Forderung vehement zurück und verschärfte den Ton.

Der deutsche Botschafter in London, Andreas Michaelis, kommentierte den Ernst der Lage am 10. September, er habe ‚noch nie einen solch rapiden, vorsätzlichen und schweren Zerfall einer Verhandlung gesehen‘.

Souveränität ohne Glaubwürdigkeit?

Die Souveränität des Vereinigten Königreichs wurde bei den Brexit-Verhandlungen von UK in den Mittelpunkt gestellt, auch um die Kontrolle über Gesetze zurückzubekommen, aber schließt das einen internationalen Gesetzesbruch ein?

In der Parlamentsdebatte zitierte die Schattenministerin für Nordirland Louise Haigh (Labour) die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher, dass ihr Land keine Verträge breche, da es schlecht für ihr Land sei, ein Zitat, das auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen später in ihrer Rede zur Lage der Union verwendete mit Kritik an UKs Plänen.

Johnsons Vorgängerin Theresa May, die mehrmals bei dem Versuch gescheitert war, ein Brexit-Abkommen durch das Parlament zu bringen, nicht zuletzt wegen der Nordirland-Regelung, wies Lewis darauf hin, dass UK das Abkommen mit dem Nordirland-Protokoll unterschrieben habe, das Parlament habe dafür gestimmt und es damit in UK-Gesetzgebung übernommen. Jetzt wolle man die Anwendung ändern. Wie könne diese Regierung zukünftigen internationalen Partnern versichern, dass man ihnen bei unterschriebenen rechtlichen Verpflichtungen trauen könne.

Auch alle anderen noch lebenden Premierminister, John Major, Gordon Brown, Tony Blair und David Cameron, kritisierten Johnsons Gesetzentwurf. Während Johnson diese Kritik noch kalt lassen mag, schienen ihn andere Kritik und Rücktritte härter zu treffen. Der Chefjustiziar der britischen Regierung, der hochrangige Jurist Jonathan Jones, trat kurz vor der achten Verhandlungsrunde wegen des drohenden Rechtsbruchs zurück.

Der frühere britische Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox, bekannt als Brexit-Befürworter, lehnte juristischen Wortbruch ab und mahnte, dass das Austrittsabkommen vom britischen Parlament rechtskräftig unterschrieben wurde, letztlich auch von der Queen.

Großbritannien Flaggen hängen an Girlande vor blauem Himmel.

Selbst wenn Johnson Zugeständnisse bei der Anwendung des Binnenmarktgesetzes macht, etwa dass letzteres nur mit Zustimmung des Parlaments aktiviert werden dürfte oder nur im Notfall eingesetzt würde, der Schaden ist schon entstanden.

Ein No-Deal droht, und das britische Binnenmarktgesetz ist Sprengstoff. Johnson könnte damit, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, Brücken sprengen und dann allein auf einer Insel sitzen.

Bilder: Unsplash.

Dr. Sigrid Fretlöh bloggt für die Geschäftsstelle Städtepartnerschaften.

Dr. Sigrid Fretlöh ist selbstständige EU-Referentin, Consultant, Dozentin und Autorin, Mitglied im Team Europe Rednerpool der Europäischen Kommission. Sie arbeitet auch als EU-Großbritannien-Expertin für TV- und Radio-Sender. Seit Studienaufenthalt und 16 Jahren Arbeit in Großbritannien, u.a. im Sprecherprogramm der Deutschen Botschaft London, unterstützt sie persönlichen und beruflichen britischen Austausch, u.a. in ihrem eigenen Blog.

Kontakt: fretloeh@expert-eu-uk-de.net

Veröffentlicht von Netzwerkstelle Städtepartnerschaften

Netzwerkstelle Städtepartnerschaften | Auslandsgesellschaft.de e.V.

2 Kommentare zu „Deal, No-Deal – das britische Binnenmarktgesetz als Sprengstoff

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