Zeitverschwendung oder Taktik in Brüssel?
Am 18. August 2020 begann in Brüssel die siebte Verhandlungsrunde über das zukünftige Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich mit einem Dinner für die Verhandlungsführer Michel Barnier und David Frost. Drei Bereiche dominierten die Agenda: Faire Wettbewerbsbedingungen, Fischerei und Strafverfolgung mit Zusammenarbeit im Bereich Justiz.
Zwei Stellungnahmen – eine Runde Enttäuschung

Die Pressekonferenz von Barnier nach Verhandlungsende am 21. August war eher ernüchternd, auch wenn er Fortschritte etwa bei Zusammenarbeit im Energiesektor, Teilnahme an EU-Programmen und Vermeidung von Geldwäsche hervorhebt. Allerdings gebe es bei den Kern-Streitpunkten Fischerei und fairen Wettbewerbsbedingungen wieder keine Fortschritte.
Damit man überhaupt zu einem Vertragstext über die zukünftigen Handelsbeziehungen komme, müssten die strittigen Punkte zuerst geklärt werden. Barnier verweist ausdrücklich auf die revidierte Politische Erklärung vom letzten Oktober. Dies sei der Text, den auch das Britische Parlament in Verbindung mit dem Austrittsabkommen gebilligt habe. In dem von ihm zitierten Paragrafen 77 heißt es, dass die Übereinkunft zwischen EU und UK ‚stabile Zusagen‘ umfassen müsse, um ‚Handelsverzerrungen und unfaire Wettbewerbsvorteile zu vermeiden‘. Barnier bezieht sich auf die hohen Standards, die noch in der EU und im Vereinigten Königreich gelten. Diese müssten nach der Übergangsphase unbedingt erhalten bleiben, ausdrücklich in den Bereichen Staatshilfen, Wettbewerb, Soziales und Arbeit, Umwelt, Klimawechsel und Steuerangelegenheiten. Er findet deutliche Worte, sei ‚enttäuscht‘ und ‚besorgt‘ und halte außerdem, wie schon im Juli, eine Einigung zum jetzigen Zeitpunkt für ‚unwahrscheinlich‘. Nach dieser Runde frage er sich, warum ‚wertvolle Zeit verschwendet werde‘ und es sich oft anfühle, als würde man mehr rückwärts- als vorwärtsgehen.
Während er sich auf den vereinbarten Text beruft, hört man von britischer Seite schon seit Jahresanfang, diese Politische Erklärung sei noch gar nicht rechtlich bindend und offen für Interpretation.

In dem offiziellen britischen Regierungs-Blog von 10 Downing Street, dem Amtssitz des Premierministers, wird am 21. August das Statement von David Frost vorgestellt. Demnach hält er eine Einigung noch für möglich, und dies sei auch sein Ziel, aber er sehe auch, dass dies nicht leicht zu erreichen sei. Trotz ‚nützlicher Gespräche‘ habe es ‚wenig Fortschritt‘ gegeben.

Als Hauptstreitpunkte nennt auch er Wettbewerbsbedingungen und Fischereirechte, sieht die Verantwortlichkeit aber besonders in der Inflexibilität der EU. Letztere bestehe auf grundlegenden Klärungen vor anderen Einigungen und vor dem Erstellen des Vertragstextes, was das Verfahren kompliziere. Es sei an der EU, die lange bekannten Prinzipien des UK-Ansatzes zu verstehen und zu akzeptieren, die souveräne Kontrolle über die eigenen Gesetze, die Grenzen und das Wasser beinhalten. Außerdem wolle man von britischer Seite einen Freihandelsvertrag (ähnlich den Verträgen, die die EU schon mit anderen internationalen Handelspartnern abgeschlossen habe) sowie praktische Lösungen für Kooperation in Bereichen wie Luftfahrt, wissenschaftlichen Programmen und Strafverfolgung.
Frost gab sich noch am 19. August ‚hoffnungsvoll, dass man im nächsten Monat einen Handelsvertrag mit der EU abschließen könne‘, am Ende der Runde war der in den letzten Wochen zur Schau getragene Optimismus etwas gedämpft.
Frustration scheint auf beiden Seiten das dominante Gefühl zu sein.

Einige Kommentatoren gehen davon aus, dass die EU beim Thema Staatshilfen eine UK-Position erwartet, die nur die der EU widerspiegele, andere betonen, dass UK nicht dieses System eins zu eins übernehmen müsse, aber endlich ihre eigene Strategie (wenn sie denn eine hat) offenlegen solle, denn dazu gebe es wenig Konkretes.
Eine Analyse, dass sich die britische Regierung nicht vorschreiben lassen will, wie ihre künftige Politikgestaltung sein wird, ist völlig richtig. Dies würde in der Tat der Grundabsicht des Brexits widersprechen. Die von UK verlangten Auflagen gibt es nicht in den von Frost angesprochenen ‚anderen internationalen Verträgen‘ (dafür aber andere). Ein EU-Handelsvertrag wie etwa mit Kanada wurde auch von Premierminister Johnson mehrfach gewünscht, aber immer wieder von der EU abgelehnt, u.a. weil UK als innereuropäischer Konkurrent eine größere Bedrohung sei und mit seinen Standards die EU unterbieten könnte, während es gleichzeitig Vorteile des EU-Binnenmarkts nutzt.
Man kann darüber spekulieren, ob UK wirklich z.B. Stahlwerke in Wales oder die Autoindustrie in den Midlands unterstützen würde, um damit die EU zu unterbieten, ob es sinnvoll wäre, dass UK ggf. besser im High-Tech-Sektor aufgestellt wäre, aber man sollte eben nicht spekulieren müssen. Es muss klare und verlässliche Richtlinien geben und für beide Seiten zuverlässige und akzeptable Schiedsgerichtsmöglichkeiten.
Die EU will sich, ebensowenig wie UK von der EU, ihre zukünftige Politik nicht von dem Vereinigten Königreich diktieren lassen und ihre Mitgliedstaaten schützen.
Britische Taktik, am Ende werde die EU einknicken, oder harte Realität?
Wieder steht ein No-Deal-Szenario im Raum, oder es wird wieder nur eine Last-minute-Lösung im Herbst geben. Allerdings könnte das britische Spiel mit dem No Deal Taktik sein, damit die EU-Seite einknickt, wenn man den Zeitdruck erhöht. Das wäre ein riskantes Spiel, Barnier scheint unbeeindruckt.
Wenn Frost sich lt. Medienberichten eine Deadline bis Mitte September setzt und die Gespräche abbrechen wolle, um einen No-Deal zu erklären, wenn bis dann kein Erfolg vorliege, fragt man sich, für wen das abschreckender ist.
Ob man von britischer Seite davon ausgeht, die negativen Folgen eines No-Deal-Brexits hinter den Corona-Konsequenzen ‚verstecken‘ zu können, wie einige Medien schon länger und auch nach der siebten Verhandlungsrunde noch vermuten, kann nicht ausgeschlossen werden, aber auch das wäre ein riskantes Spiel.
Die harte Realität wird die Briten einholen, wenn es keinen Handelsvertrag am 31. Dezember 2020, dem Ende der Übergangsphase, gibt. Das Handelsblatt weist mit Recht darauf hin, dass bei ‚Kontakt mit der Wirklichkeit‘ Premierminister Johnsons Vision, in die Welt hinauszugehen und alle Handelsbeziehungen neu zu verhandeln, um das britische Potenzial voll zu nutzen, schnell an Grenzen stößt. Nicht nur bei den britischen Verhandlungen mit den USA wird die Behauptung bestätigt, dass es bei Handelsgesprächen ‚nicht um Debatten wie an der Universität Oxford‘ geht, d.h. nicht nur um bessere Argumente, sondern vor allem um Macht.

Britischer Wirtschaftseinbruch um 20 Prozent im zweiten Quartal 2020, Auswirkungen der Corona-Krise oder in Schottland das Drängen für ein Unabhängigkeitsreferendum: Ein No-Deal am Ende des Jahres würde die Probleme verschärfen. Nach einigen Schätzungen belaufen sich in diesem Fall die Kosten auf britischer Seite bei Import und Export allein für neue Zollerklärungen und Verwaltungsanforderungen ab 1. Januar 2021 auf etwa 13 Milliarden Pfund. Das ist nach Rabatt mehr als der jährliche Beitrag der Briten zum EU-Haushalt. Diese Tatsachen müsste man erst mal einem Volk erklären, dem man versprochen hat, dass ein Brexit eine riesige Ersparnis bringt.
Laut neuesten britischen Umfragen im August ist die Mehrheit der Briten zunehmend unzufrieden mit der Lieferung des Brexits durch den Premierminister und der Führung der EU-Verhandlungen. Im Juli 2020 würde eine Mehrheit, wenn auch keine überwältigende, dafür stimmen, in der EU zu bleiben. Den von Boris Johnson vorausgesagten einfachen und schnellen neuen Vertrag gibt es nicht.
Strategien, ja – Spielchen, nein
Barnier erklärte, man brauche bis Oktober spätestens einen Deal, um noch Zeit für die Vertragsratifizierung zu haben. Als erfahrener Verhandlungsführer weiß er, dass trotz verständlicher Frustration eine Verhandlungsrunde keine Zeitverschwendung ist, sondern Teil der Strategie bis zum Schluss.
Der Eindruck nach der letzten Runde verstärkt sich jedoch, dass die EU als mächtigerer Partner nicht gewillt ist, nationalen britischen Interessen nachzugeben und auf früheren Absprachen besteht. Die britische Taktik ist noch unklar.

Am 21. August endete die siebte Verhandlungsrunde mit einem gemeinsamen Arbeitsfrühstück. Zum Auftakt der ersten EU-UK-Verhandlungsrunde am 2. März 2020 wurde aus der britischen Presse berichtet, dass David Frost mit seinem Team ein herzhaftes volles englisches Frühstück genoss. Dies sollte wohl seinen patriotischen Kampfgeist verdeutlichen. Sieben Verhandlungsrunden und etliche Frühstücke später zeigt sich, dass Patriotismus bei der Frühstückswahl wenig Fortschritt garantiert. Ein gemeinsames Arbeitsfrühstück garantiert zwar auch keinen Erfolg, aber es ist zumindest irrelevant, was gegessen wird.
Die nächste Verhandlungsrunde soll ab 7. September in London stattfinden.
Bei der vorherigen Runde in London im Juli servierte man übrigens einer britischen Boulevardzeitung zufolge beim Abendessen Michel Barnier Fisch, was angesichts des Streits um Fischereirechte möglicherweise Absicht war.
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Dr. Sigrid Fretlöh bloggt für die Geschäftsstelle Städtepartnerschaften.
Dr. Sigrid Fretlöh ist selbstständige EU-Referentin, Consultant, Dozentin und Autorin, Mitglied im Team Europe Rednerpool der Europäischen Kommission. Sie arbeitet auch als EU-Großbritannien-Expertin für TV- und Radio-Sender. Seit Studienaufenthalt und 16 Jahren Arbeit in Großbritannien, u.a. im Sprecherprogramm der Deutschen Botschaft London, unterstützt sie persönlichen und beruflichen britischen Austausch, u.a. in ihrem eigenen Blog.
Kontakt: fretloeh@expert-eu-uk-de.net