‚Jeder Tag zählt‘ – Endspurt bei den Verhandlungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich?

Person trägt Flagge der Europäischen Union als Umhang

Die letzte offizielle, neunte Verhandlungsrunde vom 29. September bis 2. Oktober in Brüssel brachte wenig Fortschritt. Was ist seither passiert?

Am 1.10.2020 leitete die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen das Vereinigte Königreich ein. Dieses hatte die von der Kommission gesetzte Frist Ende September verstreichen lassen, das britische Binnenmarktgesetz zurückzunehmen, weil es Teile des Brexit-Vertrags aushebeln würde.

Premierminister Boris Johnson sagte ein geplantes Treffen für Verhandlungen in London ab, lud EU-Verhandlungsführer Barnier quasi wieder aus, um es dann doch verspätet und sogar um einige Tage verlängert, wieder zuzulassen. Barnier sagte bei seiner Ankunft in London am 22.10., dass jetzt ‚jeder Tag zähle‘, eine Feststellung, die nie zutreffender war.

Das Vereinigte Königreich – Johnson zwischen Konfrontation und Rückzieher

Johnsons Drohung schon im September, man könne die Verhandlungen am 15. Oktober beenden, wenn es bis dann keine Fortschritte gebe, machte er nicht wahr. Er wartete den EU-Gipfel in Brüssel am 15. und 16. Oktober ab. Innenpolitisch immer mehr unter Druck durch seine sinkenden Umfragewerte, hatte Johnson dem britischen Volk einen neuen Vertrag über die zukünftigen Beziehungen mit der EU zum Vorteil UKs versprochen. Das hat er noch nicht geliefert, die fundamentalen Differenzen bestehen fort, besonders bei den Fischereirechten, dem emotionalsten nationalen Streitpunkt, den fairen Wettbewerbsbedingungen und einem Streitschlichtungsmechanismus bei Vertragsverletzungen, welche die EU verlangt. Er muss Kampfeswillen und Härte zeigen, gerade wenn er letztlich Kompromisse eingeht.

In Einzel-Telefonaten etwa mit Angela Merkel und Emmanuel Macron einige Tage vor dem EU-Gipfel betonte Johnson zwar, dass ein Handelsabkommen für beide Seiten positiv wäre, hielt aber gleichzeitig am Binnenmarktgesetz als größter Provokation fest.

Uhr des Big Ben in London

Nach dem Gipfel wurde ‚Enttäuschung‘ von britischer Seite signalisiert, und es gab Schlagzeilen, die Handelsgespräche seien vorbei, Unternehmen sollten sich noch stärker auf einen No-Deal am 1. Januar 2021 vorbereiten, bzw. auf ein EU-Australien-Modell, nach dem nur die Regeln der WTO gelten. Wer bei Johnsons Rede vom 16.10. genauer hinsieht, stellt zwar fest, dass wieder die Forderung nach einem Abkommen wie zwischen der EU und Kanada auftaucht, der Hinweis auf Unabhängigkeit, die Ablehnung der ‚Kontrolle‘ durch die EU, man findet die Aussicht auf eine blühende britische Nation auch ohne ein Abkommen im Kanada-Stil, aber man findet nirgends den Satz: Die Verhandlungen sind vorbei. Die Verhandlungen seien beendet, wenn die EU nicht ihre Position grundsätzlich überdenken würde. Dieses ‚wenn‘ wurde leicht übersehen.

Michael Gove äußerte zwar auch in seiner Rede vor dem britischen Unterhaus am 19.10. seine Unzufriedenheit mit dem Fortschritt der Verhandlungen und besonders mit der harten Haltung des EU-Gipfels gegenüber UK, aber er betonte auch die weiterhin gute Zusammenarbeit mit der EU im EU-UK-Gemeinsamen Ausschuss (Joint Committee) – letzterer ist verantwortlich für die Umsetzung des Austrittsvertrags – und speziell mit dem Vize-Präsidenten der Europäischen Kommission und Ko-Leiter des Ausschusses Maroš Šefčovič. Mit diesem vierten regulären Ausschusstreffen an demselben Tag in London habe man Fortschritte gemacht, und es endete mit dem Hinweis, bei den Verhandlungen sei die Tür auf britischer Seite nicht geschlossen, sie sei ‚angelehnt‘.

Das EU-Statement zu diesem gemeinsamen Treffen verweist auch positiv auf die Fortschritte besonders in Bezug auf die Umsetzung gegenseitiger Rechte beim Wohnsitz von EU- und UK-Bürger*innen. Ein mittlerweile am 23.10. erschienener gemeinsamer Bericht dazu, der mindestens alle drei Monate bis Ende 2021 aktualisiert werden soll, bedeutet gute Nachrichten aus der Praxis, die im öffentlichen Gefecht etwas untergingen.

Die EU und das Schlüsselwort ‚Souveränität‘
Girlande aus Wimpeln mit Aufdruck der Flagge des Vereinigten Königreichs

Beim EU-Gipfel traf Johnsons Ultimatum des Gesprächsabbruchs am 15.10. auf wenig Entgegenkommen, im Gegenteil, man demonstrierte EU-Einigkeit, betonte zwar die Bereitschaft für ein Abkommen mit UK, zeigte aber eine selbstbewusste Haltung. Man wolle keinen Vertrag ‚um jeden Preis‘. Diesen Ausspruch hörte man nicht nur von Bundeskanzlerin Merkel, sondern auch von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Michel Barnier. Eine noch deutlich weniger nachgiebige Haltung UK gegenüber (wie schon früher) zeigte der französische Präsident Macron bei dem Thema Fischerei.

Angela Merkels Ausspruch „Jeder hat seine roten Linien“ spielt darauf an, dass UK seit Jahren die eigenen ‚roten Linien‘ betont, die roten Linien der EU aber offensichtlich nicht ebenso zur Kenntnis nehmen will. Sie stimmte aber, anders als Macron, etwas weichere Töne an, wenn sie zu Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten mahnte.

In der gemeinsamen Presseerklärung des Europäischen Rates ist neben dem Auftrag an Barnier zur Fortsetzung der Verhandlungen besonders deutlich die einseitige Forderung an UK, „…die notwendigen Schritte zu unternehmen, um eine Einigung zu ermöglichen.“ Gerade diese einseitige Forderung wurde auf britischer Seite zurückgewiesen, daher auch die Absage an Barnier für seinen anstehenden London-Besuch.

Diese britische Haltung änderte sich aber vor allem nach Barniers Rede am 21.10. im Europäischen Parlament. Dort erkannte er öffentlich die britischen Bedenken bezüglich ihrer ‚Souveränität‘ als ‚legitim‘ an. Allerdings betonte er auch die Bedenken der EU etwa zu fairem Wettbewerb. Die EU-Prinzipien seien aber ausdrücklich vereinbar mit der britischen Souveränität, die er als ‚legitimes Anliegen der Regierung von Boris Johnson‘ sehe. Dies waren die Kernbegriffe.

Man sei auch bereit, auf der Basis legaler Texte und bisheriger Ergebnisse an einer gemeinsamen Gesetzesgrundlage zu arbeiten, was UK schon länger forderte, und Barnier machte das Zugeständnis, dass auch von EU-Seite Kompromisse gemacht werden müssten. Dies war die ausgestreckte Hand, die UK vom EU-Gipfel erwartete, aber durch die harte Abschlusserklärung nicht erhalten hatte.

Laut Barnier habe sich ansonsten die Position der EU nicht verändert, indem man die Verhandlungen ‚ruhig‘, ‚konstruktiv‘ und ‚respektvoll‘ weiterführen wolle, aber man bleibe auch fest und entschlossen bei der Verteidigung der eigenen Prinzipien und Interessen, werde an Kompromissen arbeiten und die Tür immer offenhalten.

Diese Rede und vermutlich auch sein Telefonat mit dem britischen Verhandlungsführer David Frost führten dazu, dass die verschobenen Verhandlungen doch noch stattfanden.

Der Weg zum Kompromiss

Angesichts des festgefahrenen Verhandlungsverlaufs zeichnete sich schon ab, dass auch die EU vor allem bei dem emotional geladenen Streit um die Fischereirechte einen Kompromiss anbieten muss, da dieser Punkt vor allem in der britischen Öffentlichkeit verbunden wird mit nationaler Ehre, Unabhängigkeit und der nachweisbaren Benachteiligung der britischen Fischer durch die EU.

Am 12. Oktober veranstaltete die Landesvertretung NRW in Brüssel eine Online-Debatte zwischen dem deutsch-britischen David McAllister MdEP, Vorsitzender der Brexit- Koordinierungsgruppe im Europäischen Parlament, und Greg Hands MP, Staatssekretär für Handel des Vereinigten Königreichs zum Thema der Verhandlungen zwischen EU und UK. Ohne auf alle Argumente einzugehen, verdeutlichte die Veranstaltung zwei sehr unterschiedliche Herangehensweisen aus EU und britischer Sicht, und der Untertitel „Der schwierige Weg zum Kompromiss“ traf ins Schwarze. Selbst wenn ich persönlich McAllisters Meinung teile, Brexit sei nichts Gutes, nicht Win-Win, sondern Lose-Lose und es gehe vor allem um Schadensbegrenzung, ist Greg Hands Feststellung, der Brexit sei seit dem 1.2.2020 vorbei, korrekt, und seine Hoffnung auf ein gutes bilaterales Verhältnis zu Deutschland, speziell auch zu NRW, teilen viele.

Von einigen Kommentatoren wurden die Szenen der letzten Wochen als ‚politisches Theater‘ bezeichnet, das auf beiden Seiten eine Inszenierung für das jeweils nationale Publikum war. Auf britischer Seite wartete man vor allem auf das Schlüsselwort „Souveränität“, auf dem EU-Gipfel wollte man deutlich machen, dass es sich nicht lohnen kann, die EU zu verlassen und dass die Rechte der EU gemeinsam geschützt werden. Dies signalisierte man auch den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten, man gebe eben nicht der so oft als ‚Rosinenpickerei‘ bezeichneten britischen Haltung nach.

Bei den noch andauernden Verhandlungen ist es sicher sinnvoll, auch hinter das öffentliche Spektakel, die große Bühne und die Schlagzeilen zu sehen, denn dort gibt es Fortschritte.

Gleichgültig mit welchen Motiven, entscheidend ist, dass nach den verlängerten Gesprächen in London ab voraussichtlich dem 29.10. eine Fortsetzung in Brüssel folgt, und jede Seite weiß, dass diese letzten Wochen die letzte Chance sind, noch einen Vertrag abzuschließen. Nur durch diesen könnte ein No-Deal verhindert werden zum Nutzen beider Seiten.

Bilder: Unsplash.

Dr. Sigrid Fretlöh bloggt für die Geschäftsstelle Städtepartnerschaften.

Dr. Sigrid Fretlöh ist selbstständige EU-Referentin, Consultant, Dozentin und Autorin, Mitglied im Team Europe Rednerpool der Europäischen Kommission. Sie arbeitet auch als EU-Großbritannien-Expertin für TV- und Radio-Sender. Seit Studienaufenthalt und 16 Jahren Arbeit in Großbritannien, u.a. im Sprecherprogramm der Deutschen Botschaft London, unterstützt sie persönlichen und beruflichen britischen Austausch, u.a. in ihrem eigenen Blog.

Kontakt: fretloeh@expert-eu-uk-de.net

Veröffentlicht von Netzwerkstelle Städtepartnerschaften

Netzwerkstelle Städtepartnerschaften | Auslandsgesellschaft.de e.V.

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