Seit Monaten befanden sich die Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich in einer Art Endlosschleife. Gerade in der beginnenden Vorweihnachtszeit zuckten einige zusammen bei dem Thema wie bei dem jedes Jahr gespielten Ohrwurm ‚Last Christmas‘ der britischen Popgruppe Wham!. Ähnlich wie bei zwangsweise beschallter Einkaufsmusik wünschen sich viele, dass es endlich vorbei ist.

Es gab nochmal Dramatik am 13. Dezember 2020, weil Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Boris Johnson für den Tag eine Deadline angesetzt hatten, zu der man über die Verhandlungen entscheiden wollte. Diese waren politische Chefsache geworden mit Telefonaten und einem persönlichen Treffen in Brüssel. Dann gab es doch keine endgültige Entscheidung, sondern ein sehr kurzes gemeinsames Statement, die Verhandlungen aus Verantwortungsgefühl von den beiden Teams doch noch weiter führen zu lassen.
Die Kommissionspräsidentin sprach von ‚konstruktiven‘ und ‚nützlichen‘ Gesprächen und der ‚extra Meile‘, die man noch gehen wolle ohne eine neue Deadline. Daher kann dieser letzte Blogbeitrag 2020 nur eine Bestandsaufnahme zur Monatsmitte sein.
Die ‚extra Meile‘ gehen
Man mache Fortschritte, hieß es, aber es blieben noch erhebliche Differenzen für einen EU-UK-Handelsvertrag bei den drei Kernthemen Fischereirechte, ‚Level Playing Field‘, d.h. faire Wettbewerbsbedingungen, und ‚Governance‘, also Zuständigkeiten bei Unstimmigkeiten. Keiner will derzeit ohne Ergebnis zuerst den Verhandlungstisch verlassen.
Beim Einkaufen lassen wir das ‚Last-Christmas‘-Gedudel über uns ergehen (lassen wir mal den Faktor Online-Shopping beiseite), weil wir ein Weihnachtsgeschenk suchen und es nun mal jedes Jahr die Weihnachtszeit begleitet. Ähnlich gehört die öffentliche Begleitmusik zu den EU-UK-Verhandlungen, seit 2016 mit zu- und abnehmender Dramatik, wenn man am Ende ein Resultat will.

Der Unterschied ist, dass es bei den letzten um Entscheidungen über enorme Summen, Kapazitäten und die Zukunft geht. Noch vor wenigen Tagen nannte eine britische Zeitung aktuelle, offizielle Vorhersagen, nach denen allein auf britischer Seite der Wirtschaft im nächsten Jahr bei einem No-Deal etwa 40 Milliarden Pfund verloren gehen und 300 000 Menschen ihre Jobs verlieren könnten. Es würde an den Grenzen Chaos geben und deutlich höhere Lebensmittelpreise. Dafür lohnt es sich schon, sitzen zu bleiben.
Der britische Schattenminister für Wirtschaft, Ed Milliband, kommentierte am Tag der Deadline die britische Sorge, die EU könne eventuell ihre Standards erhöhen, UK müsse dann folgen und das widerspreche britischer Souveränität. Er sähe keinen Sinn darin, dafür einen No-Deal zu riskieren. Wenn man wegen eines möglichen Problems bei den Wettbewerbsbedingungen in der Zukunft gar nicht mehr verhandeln wolle, sei das ähnlich, als erwarte man in fünf Jahren vielleicht ein undichtes Dach und planiere deshalb schon mal lieber das gesamte Haus.
Am 14.12. warnte EU-Verhandlungsführer Michel Barnier bei einer Lagebesprechung mit den Gesandten der EU-Botschaften, dass es eventuell nur einen vorläufigen Vertrag gebe, selbst wenn man sich noch einige und ein endgültiges Abkommen vielleicht erst Anfang 2021 käme. Das könnte eine kurze No-Deal-Phase bedeuten, da auf jeden Fall das Europäische und britische Parlament noch zustimmen müssten. Nie zuvor habe es Verhandlungen über einen solch umfassenden Vertrag in so kurzer Zeit gegeben. Der Inhalt des Treffens wurde aus Diplomatenkreisen mit fast britischem schwarzem Humor zusammengefasst als: ‚Der Patient lebt noch, aber halten Sie den Bestatter auf Kurzwahl‘.
Irland ist als EU-Mitglied besonders eng mit UK über den Warenverkehr verflochten und wäre besonders hart von einem No-Deal betroffen. Daher verfolgt man dort sehr angespannt die Verhandlungen. Nach jüngsten Äußerungen des irischen Regierungschefs Micheál Martin wäre es ein bedauerliches Versagen, wenn die Verhandlungen scheitern würden, obwohl mehr als 90 Prozent eines Vertrags schon übereinstimmend geklärt wurden und man sich um die letzten Prozente streitet. Sein Außenminister Simon Coveney beschreibt die Situation passend, dass ein Deal nicht erreicht werde durch geschicktes Manövrieren und Überlisten der anderen Seite, um einen klaren Gewinner oder Verlierer auszumachen, sondern der einzige Weg sei, wenn beide Seiten mit dem Ergebnis leben könnten und die ernsthaften Probleme der jeweiligen Seite verstehen.
Es hilft nicht unbedingt, dass vom britischen Verteidigungsministerium erklärt wurde, vier bewaffnete Patrouillenboote der Royal Navy stehen bereit zur Abschreckung europäischer Fischerboote und zur Verteidigung britischer Fischereigründe, wenn ab 1.1.2021 kein Deal vorliegt. Auch auf europäischer Seite stehen Existenzen auf dem Spiel.

Wie der ehemalige irische Premierminister Bertie Ahern kürzlich sagte, wäre das Beispiel der früheren Nordirland-Friedensgespräche kein schlechtes Vorbild auch für die laufenden EU-UK-Verhandlungen, wenn es um einen Streitschlichtungsmechanismus geht. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs wäre für die britische Seite eben unakzeptabel, sodass eine neutrale dritte Lösung gefunden werden müsse.
Die britische Seite möchte als souveräner Drittstaat eine klare Änderung der geltenden Fischerei-Bestimmungen, die sich noch auf Regelungen aus ihrem Eintrittsjahr 1973 in die Europäische Gemeinschaft beziehen. Sie sehen dort eine übermäßige Bevorzugung der europäischen Fischer bei den Fangquoten in britischen Gewässern. Die EU-Seite besteht auf ihren besonderen Regeln für den gemeinsamen Markt und möchte eine unfaire Unterbietung ihrer Standards durch UK nicht riskieren. Also muss man sich einigen.
Bye-Bye Britain als EU-Mitglied und neue britisch-deutsche Beziehungen
Für den Fall eines No-Deals schlug die Europäische Kommission noch am 10. Dezember letzte gezielte Notfallmaßnahmen zur Abfederung einiger größerer Beeinträchtigen vor, etwa in der Anbindung an den Luftverkehr, für die Flugsicherheit und im Straßenverkehr für einen Zeitraum von sechs Monaten, falls UK dies umgekehrt garantiert. Auch bei Fischereiregelungen hätte man ggf. Spielraum. Aber Vorbereitungen auf beiden Seiten lassen keinen Zweifel daran, dass der 1. Januar 2021 einen Einschnitt darstellt, mit oder ohne Vertrag, da UK die EU-Zollunion und den gemeinsamen Markt verlässt.
2020 ist das Jahr des offiziellen Brexits, denn er wurde am 1. Februar vollzogen. Trotz der Übergangsphase bis 31. Dezember dieses Jahres wird das Vereinigte Königreich Drittstaat sein. Machen wir uns nichts vor, Deutschland wird Mitglied der EU bleiben, das Vereinigte Königreich ist es nicht mehr. Für letzteres war die Mitgliedschaft immer problematisch und mit gewisser Skepsis belastet, dass seine Souveränität beeinträchtigt werden könnte. Am Ende 2020 muss die Bilanz sein, dass wir in der EU einen Partner und Freund verloren haben.
In gewisser Weise trennen sich also die Wege von Deutschland und dem Vereinigten Königreich, wenn es um die Verbindung zur EU geht, und das sog. ‚Europäische Dilemma‘ war auch Teil dieses Verhältnisses. Die Beziehungen werden sich ändern. Der Brexit schreibt ein neues Kapitel in den britisch-deutschen Beziehungen, wie die Financial Times schon Anfang Februar 2020 feststellt. Es ist eine Wiederentdeckung und Weiterentwicklung, es gab Beziehungen vor 1973, es wird sie nach 2020 geben, und sie werden wichtiger denn je sein.
Zwischen Juli 2019 und März 2020 gab es in Bonn im Haus der Geschichte eine Ausstellung „Very British. Ein deutscher Blick“, und im Begleitbuch wird sie beschrieben im ‚Spannungsfeld zwischen Irritation und Faszination‘, wobei eher das Verbindende im deutsch-britischen Verhältnis herausgestellt wird als nur das Trennende. Verständigung und Versachlichung bei manchen Themen sei keine schlechte Idee. Dieser Ansatz kann auch Motto sein dafür, dass wir andere Themen als den Brexit ab 2021 angehen.

Am 16.12. vormittags melden auch britische Medien unter Bezugnahme auf ein Statement der Kommissionspräsidentin vor dem Europäischen Parlament, dass ‚Fortschritte in den Verhandlungen gemacht wurden‘ und sich ein ‚schmaler Pfad‘ zu einem Vertrag geöffnet habe. Beim Punkt Streitschlichtungsmechanismus gebe es Fortschritte und in der Frage der staatlichen Beihilfen für private Unternehmen, während das Thema Fischerei noch besonders umstritten sei und ebenso manche Wettbewerbsbedingungen noch unklar. Vielleicht kommt es ja doch noch zu einer Art Weihnachtsgeschenk in Form eines Deals?
Aber wie bei manchen Socken als Geschenk zum Fest: Sie sind nützlich, aber eigentlich wollte man etwas anderes.
Was das Weihnachtslied ‚Last Christmas‘ angeht: Irgendwann ist der Ohrwurm vorbei und ein neues Jahr kommt. Dann kommt wieder der jährliche Silvester-Klassiker mit Kultstatus in Deutschland „Dinner for One“, und da heißt es am Schluss ‚Ich gebe mir alle Mühe‘.
Ich wünsche allen ein friedliches und besonders ein gesundes Weihnachtsfest, ‚Merry Christmas‘ und ein gutes Neues Jahr 2021!
Bilder: Unsplash.
Dr. Sigrid Fretlöh bloggt für die Geschäftsstelle Städtepartnerschaften.
Dr. Sigrid Fretlöh ist selbstständige EU-Referentin, Consultant, Dozentin und Autorin, Mitglied im Team Europe Rednerpool der Europäischen Kommission. Sie arbeitet auch als EU-Großbritannien-Expertin für TV- und Radio-Sender. Seit Studienaufenthalt und 16 Jahren Arbeit in Großbritannien, u.a. im Sprecherprogramm der Deutschen Botschaft London, unterstützt sie persönlichen und beruflichen britischen Austausch, u.a. in ihrem eigenen Blog.
Kontakt: fretloeh@expert-eu-uk-de.net