Integration durch Städtepartnerschaften

Cem Şentürk ist Programmleiter Interkulturelle Kommunikation und Arbeitsmarktintegration am ZfTI und unterrichtet „Migration und Integration“ an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV) NRW.
Das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) wurde 1985 mit dem Ziel der Intensivierung der deutsch-türkischen Beziehungen gegründet. Seitdem hat es sich zu einem wichtigen wissenschaftlichen Kompetenzzentrum zu Fragen der Migration und Integration allgemein entwickelt. Als Stiftung des Landes Nordrhein-Westfalen und An-Institut der Universität Duisburg-Essen beschäftigt sich das ZfTI mit deutscher, türkischer und europäischer Migrations- und Integrationsforschung und der Förderung des Wissenschaftleraustauschs zwischen der Türkei und Deutschland.
Herr Şentürk, welche Rolle spielten bzw. spielen Städtepartnerschaften in Ihrer Arbeit?
Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei gehen ja weit über die politische Ebene hinaus. Für ein Forschungsinstitut mit einem Schwerpunktthema „deutsch-türkische Beziehungen“ ist es unvermeidlich, sich mit Städtepartnerschaften zu beschäftigen, da sie einen wichtigen Teil der zivilgesellschaftlichen Beziehungen verkörpern. Das ZfTI hat seit seiner Gründung zahlreiche Städtepartnerschaften zwischen deutschen und türkischen Kommunen begleitet. Die Städtepartnerschaften sind auch ein Schwerpunkt der Parlamentariergruppe NRW-Türkei des Landtags, die vom ZfTI fachlich begleitet wird.
Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt des ZfTI liegt auf der kommunalen Integrationspolitik. Mit unseren Studien und Modellprojekten tragen wir zur besseren Verständigung und zum stärkeren Zusammenhalt auf der kommunalen Ebene bei. Aufgrund der Fluchtmigration ist unsere Expertise dabei auch in der Türkei gefragt. Insbesondere in Zusammenarbeit mit dem Projekt „Deutsch-türkischer Austausch zur Integration von syrischen Flüchtlingen in aufnehmenden Gemeinden“ der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstützen wir die Entwicklung der Expertise der türkischen Kommunen in Migrationsfragen. Zwei türkische Kommunen, Buca in der Metropolregion Izmir und Eyyubiye in der Metropolregion Sanliurfa, erarbeiten zurzeit mit Begleitung des Düsseldorfer IMAP-Instituts die ersten türkischen kommunalen Integrationskonzepte. Das ZfTI unterstützt diesen Prozess mit seiner wissenschaftlichen Expertise. Auch unsere Heimatstadt Essen ist nun in diesen Erfahrungstransfer eingebunden.
Welche Tendenzen im Bereich Migration, Integration und Städtepartnerschaften sehen Sie auch über den deutsch-türkischen Raum hinaus?
Die Türkei und die türkeistämmigen Migrant*innen stehen zwar nach wie vor im Fokus unserer Forschungs- und Netzwerkarbeit, aber unser Arbeitsspektrum ist genauso wie die Herkunftsländer der Migrant*innen vielfältiger geworden. Insbesondere rücken die Menschen aus den arabischsprachigen Regionen immer mehr in den Mittelpunkt. Die Erfahrungen, die wir in den letzten Jahrzehnten über die türkeistämmige Community sammeln konnten, haben sich für die Unterstützung der Integrationsprozesse der Neuzuwander*innen als sehr wertvoll erwiesen. Beispielsweise konnten wir in der Frühphase der großen Fluchtmigration 2015/2016 anhand der vorhandenen Erkenntnisse ein tragfähiges Modell entwickeln, um zahlreiche geflüchtete Menschen in Ausbildung zu vermitteln. Eine weitere Lehre aus den deutsch-türkischen Migrationserfahrungen ist, dass die Menschen ihre Bindungen und Netzwerke aus ihren Herkunftsregionen mitbringen und in der neuen Heimat auch herkunftsbezogene Netzwerke aufbauen. Daher ist eine Intensivierung der interkommunalen Beziehungen zur arabischen Welt in den kommenden Jahren sinnvoll, was bisher deutlich vernachlässigt wurde.
Das ZfTI arbeitet mit zahlreichen Partnern in einer Vielzahl von Projekten zusammen. Dazu gehört etwa das BICC in Bonn, aber auch die Stadt Essen… welche Ansätze verfolgen Sie dabei, die auch für die städtepartnerschaftliche Arbeit von Interesse sein könnte?
Als Stiftung des Landes NRW sind wir insbesondere auf der Landesebene gut vernetzt. Auch die Zusammenarbeit mit dem Bonn International Centre for Conflict Studies gGmbH (BICC) ist über eine landesweite Netzwerkstruktur entstanden. Als Gründungsmitglieder der nordrhein-westfälischen Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft arbeiten wir aktuell an einem kommunal verankerten Konzept zur nachhaltigen Fachkräftesicherung aus der Türkei und den West-Balkanländern. Das ZfTI ist aber auch auf den internationalen, bundesweiten, und kommunalen Ebenen mit verschiedenen Akteuren vernetzt und führt Projekte durch.
Aus städtepartnerschaftlicher Sicht hat das Thema „migrantische Selbständigkeit“ meiner Ansicht nach eine besondere Relevanz. Migrantische Gründer*innen sind nicht nur wirtschaftlich und arbeitsmarktpolitisch von besonderer Bedeutung. Sie bringen auch ein wichtiges Potenzial für die Städtepartnerschaften mit. Betrachtet man die Fördervereine der deutsch-türkischen Städtepartnerschaften, sieht man oft Unternehmer*innen als aktive Mitglieder in den Vorständen. Mit unseren Projekten versuchen wir, Unternehmer*innen mit Migrationshintergrund mit einheimischen Geschäftsleuten und mit den städtischen Institutionen besser zu vernetzen. Diesen „dialogischen“ Ansatz verfolgen wir in unseren anwendungsorientierten Projekten „Wirtschaftsdialog West“ und „START AB Fachstelle für Information und Beratung von Gründungswilligen und Gründer*innen mit Fluchthintergrund“. Außerdem suchen wir mit der Studie über „Repräsentanz von Migranten*innen in den Selbstverwaltungsgremien der Kammern in NRW“ Wege zur besseren Partizipation der Migrant*innen in den Kammerorganen.
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Städtepartnerschaften waren Schlüsselinstrumente bei der Förderung der Völkerverständigung in der Nachkriegszeit in Europa. Ich bin der Meinung, dass diese Instrumente auch heute wichtig sind, um die Menschen miteinander zu verbinden. Es ist jedenfalls sehr sinnvoll, dass das ORTAK-Programm der SKEW und der Mercator-Stiftung zur Förderung der deutsch-türkischen kommunalen Partnerschaften Wirtschaftsförderung als Schwerpunktthema gewählt hat. Auch sehr zu begrüßen ist in diesem Sinne ist die wirtschaftsbezogene Zusammenarbeit zwischen der Stadt Essen und der Stadt Zonguldak.
Welche Unterstützung kann das ZfTI Kommunen in NRW bieten, die sich für eine Städtepartnerschaft mit thematischem Schwerpunkt auf Migration und Integration interessieren?
Die Migration aus der Türkei nach Deutschland war bisher der „Klebestoff“ der deutsch-türkischen Städtepartnerschaften. Durch die neue Migration vor allem aus arabischsprachigen Ländern ist auch die deutsch-türkische Situation komplexer geworden. Die Kommunen können beim Thema Flucht viel voneinander lernen. Allerdings wird das diesbezügliche Potenzial bisher nicht ausreichend genutzt. Mit unserer Expertise und unserem Netzwerk können wir die Kommunen in NRW bei ihrer Suche nach einer Partnerstadt in der Türkei unterstützen und den Partnerschaftsprozess begleiten. Auch über das Thema „Migration und Integration“ hinaus können wir die Städtepartnerschaften mit der Türkei, aber auch mit der arabischen Welt unterstützen. Dank unserem fachlichen Wissen über die Verwaltungsstrukturen sowie Sprach- und Kulturkenntnisse sind wir in der Lage, die Prozesse produktiv und zielorientiert zu begleiten.
Herr Şentürk, vielen Dank für das Interview!
Interview: Beate Brockmann
Über uns
Die Festigung der Städtepartnerschaften in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit Kommunen und Zivilgesellschaft steht im Mittelpunkt unseres Projekts.