Interview mit Carina Gödecke

Sehr geehrte Frau Gödecke, als Vorsitzende der Parlamentariergruppe Türkei des Landtags NRW befassen Sie sich mit Themen des deutsch-türkischen Miteinanders in Nordrhein-Westfalen. Welche Berührungspunkte zu den kommunalen Partnerschaften ergeben sich aus Ihrer Arbeit?

Die Parlamentariergruppe Türkei besteht im Landtag seit fast 20 Jahren. Sie wurde von dem Abgeordneten Wolfgang Röken ins Leben gerufen, der sich damals als Bürgermeister in seiner Heimatstadt Gladbeck sehr für den Aufbau der kommunalen Partnerschaft mit der türkischen Stadt Alanya engagiert hatte. Sehr schnell hat er erkannt, dass darin auch landespolitisches Potential steckt, und konnte den Landtagspräsidenten davon überzeugen, eine parlamentarische Freundschaftsgruppe NRW-Türkei ins Leben zu rufen. Insofern kann man heute durchaus betonen, dass es ohne die deutsch-türkische Städtepartnerschaft in Gladbeck vielleicht nie eine Parlamentariergruppe Türkei im Landtag gegeben hätte. Auch die Abgeordneten, die sich heute in der Gruppe engagieren, kommen nicht selten aus Städten, in denen Städtepartnerschaften mit der Türkei existieren. Daher ist und bleibt das Thema ein zentrales, auch wenn wir in all den Jahren natürlich viele andere Aspekte der deutsch-türkischen Beziehungen bearbeitet und in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gestellt haben.

Es gibt sicherlich zahlreiche weitere Handlungsfelder in den deutsch-türkischen Beziehungen, mit denen sich die Parlamentariergruppe befassen könnte. Wie gestaltet die Gruppe ihre Arbeit, und was ist ihr Selbstverständnis?

Die Parlamentariergruppe Türkei im Landtag NRW ist einzigartig unter den deutschen Länderparlamenten. Das liegt unter anderem auch daran, dass die Außenpolitik nicht in die Kompetenzen der Bundesländer fällt. Deshalb ist es nicht unsere Aufgabe, uns als Parlamentariergruppe in die deutsch-türkischen Außenbeziehungen einzubringen oder innenpolitische Entwicklungen in der Türkei öffentlich zu kommentieren. Diesen Aspekt überlassen wir ausschließlich den Fraktionen, die politisch agieren und reagieren. Das unterscheidet uns in NRW von der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages. Dieses einvernehmliche Grundverständnis über den Charakter der Parlamentariergruppe ermöglicht uns, stärker auf das Verbindende und nicht ausschließlich auf das Trennende in den deutsch-türkischen Beziehungen zu schauen. Wir sind in unserer Arbeit durchaus sehr politisch, aber das öffentliche, politische Agieren findet an anderer Stelle statt. Die Gruppe versteht sich als Brückenbauerin zwischen den Kulturen und bietet für die Abgeordneten ein Forum, sich dazu untereinander und mit Gästen auszutauschen. Dabei ist wichtig, dass wir in NRW die zahlenmäßig größte türkeistämmige Community haben, und auch hier Ansprechpartner sind. Unsere Arbeit realisieren wir vor allem mit Treffen im Landtag oder aktuell eben mit digitalen Formaten, und zwar über die Fraktionen hinweg und ohne politischen Dissens.

Auch mit Delegationen türkischer Kommunen pflegt die Parlamentariergruppe im Landtag einen Austausch. Im Dezember 2019 besuchte eine Delegation der Stadt Bolu Nordrhein-Westfalen. Zwischen Bolu und Neuss besteht seit einigen Jahren eine Städtefreundschaft, über die sich Landtagsvizepräsidentin Carina Gödecke auch in einem persönlichen Gespräch im Neusser Rathaus informierte.

Foto: Landtag NRW / Wuwer

Wir wissen, Sie haben viele Städte in Nordrhein-Westfalen mit türkischen Städtepartnerschaften besucht, um sich ein direktes Bild zu machen. Was waren Ihre wichtigsten Erkenntnisse, was hat Sie überrascht?

Es gibt in Nordrhein-Westfalen mehr als 30 Städtepartnerschaften mit der Türkei. Ich habe seit 2018 bis zu den coronabedingten Einschränkungen gemeinsam mit weiteren Abgeordneten inzwischen über die Hälfte besucht, und zum Teil sehr intensive Gespräche mit den kommunalen Akteuren geführt. Eine zentrale Erkenntnis ist, dass die Städtepartnerschaften ganz unterschiedlich organisiert sind. Nahezu jede Gemeinde, jede Stadt hat ein anderes Organisationsmodell, das sich direkt auf die praktische Arbeit auswirkt. Mal ist es die Kommunalpolitik oder die Stadtverwaltung, oft sind es aber auch ehrenamtlich aktive Vereine, Einzelpersonen oder Teamleistungen zwischen Kommune und Zivilgesellschaft, die eine Städtepartnerschaft lebendig erhalten. Auch dann, wenn die offiziellen diplomatischen Beziehungen schwierig sind. Der wichtigste Punkt in allen Gespräche war, dass sich alle Akteure einen stärkeren Erfahrungsaustausch und Kontakte der verschiedenen nordrhein-westfälischen Partnerschaftsstädte untereinander wünschen, um gegenseitig von Praxisbeispielen der Partnerschaften zu profitieren. Etwas überrascht hat mich, dass es gerade die kleineren Gemeinden sind, die oftmals die aktivsten Partnerschaften aufzuweisen haben. Perspektivisch beruhigt hat mich, dass Städtepartnerschaften mehr und mehr projektbezogen arbeiten und arbeiten wollen, dass sich so mit Blick in die Zukunft ganz neue Verbindungen und Kooperationen entwickeln, ohne allerdings die Bedeutung der Beziehungen zwischen Menschen außen vor zu lassen.

Kommunale Partnerschaften sind als ein Leitthema der Parlamentariergruppe also klar erkennbar. Wie sehen die nächsten Ideen und Planungen der Parlamentariergruppe aus und welche Ziele verfolgen Sie dabei?

Die Parlamentariergruppe, die im Landtag durch einen Mitarbeiter freiwillig und zusätzlich zu anderen Verwaltungsaufgaben betreut wird, hat weder die Mittel, noch die Möglichkeiten, einen fortlaufenden Erfahrungsaustausch zwischen den Städtepartnerschaften selbst zu organisieren. Aber wir können Anstöße dazu geben und Wege suchen, wie diese sinnvolle Anregung dennoch umgesetzt werden kann. Konkret ist, auch deshalb, eine große Vernetzungsveranstaltung für die deutsch-türkischen Städtepartnerschaften am 11. Februar 2022 im Landtag geplant. Und bereits am 25. Juni 2021 wird ein digitaler Austausch mit den kommunalen Akteuren stattfinden, um die geknüpften Kontakte fortzusetzen. Im Mai nächsten Jahres wählt Nordrhein-Westfalen bekanntlich einen neuen Landtag. Damit endet – erst einmal – die Arbeit der Parlamentariergruppe, und auf jeden Fall meine Tätigkeit als Vorsitzende, denn ich werde nicht erneut für den Landtag kandidieren. Ob es auch im neuen Landtag eine Parlamentariergruppe NRW-Türkei gibt, das entscheiden dann die neu gewählten Abgeordneten. Fragt man mich, dann sage ich aber heute schon voller Überzeugung, dass der Landtag NRW auch in der kommenden Wahlperiode eine Parlamentariergruppe NRW-Türkei braucht.

Parlament und Regierung ist daran gelegen, Städtepartnerschaften zu fördern. Wo können Sie sich aus Ihren praktischen Erfahrungen Synergien zwischen der Netzwerkstelle Städtepartnerschaften und den nordrhein-westfälischen Partnerstädten vorstellen?

Dass es gelungen ist, eine Netzwerkstelle Städtepartnerschaften bei der Auslandsgesellschaft einzurichten, freut mich sehr und macht mich auch ein klein wenig stolz. Denn als Vorsitzende der Parlamentariergruppe habe ich dieses Thema begleitet, die Notwendigkeit immer wieder betont und etliche Gespräche dazu geführt. Dass die Netzwerkstelle nun auch die Beziehungen zur Türkei im Aufgabenportfolio hat, ist in Teilen damit auch auf die Überzeugungsarbeit der Parlamentariergruppe zurückzuführen. Die Netzwerkstelle ist aber vor allem ein Ausweis dafür, dass die vielfältigen Leistungen der kommunalen Partnerschaften für das deutsch-türkischen Miteinander, innerhalb unserer Städte aber auch weit darüber hinaus, anerkannt und gesehen werden. Das Themenfeld der Urban Diplomacy, von dem immer häufiger – und wie ich finde, völlig zurecht- die Rede ist, rückt die Städtepartnerschaften damit stärker in den Fokus der politischen Beachtung. Umso wichtiger ist es, dass die kommunalen Akteure mit ihren Fragen und Wünschen nach Beratung und Austausch nicht alleine gelassen werden. Genau dabei sollte und wird die Netzwerkstelle als Ansprechpartnerin behilflich sein.

Welche Botschaft möchten Sie der städtepartnerschaftlichen Community in NRW mit auf den Weg geben?

Zunächst einmal möchte ich allen Bürgerinnen und Bürgern danken, die sich für lebendige Städtepartnerschaften engagieren. Ich habe bei meinen Besuchen in den Kommunen viele Menschen erlebt, die mit großem, persönlichen Einsatz den internationalen Austausch vor Ort gestalten. Bemerkenswert, erfreulich und unterstützenswert ist, dass in manchen Kommunen auch ein Interesse an der Gründung neuer Städtepartnerschaften besteht. Diese Kommunen möchte ich ausdrücklich ermuntern, weiterhin an ihren Plänen festzuhalten und zu arbeiten, auch wenn die Zeiten für neue Partnerschaften mit der Türkei nicht ganz einfach sind. Ja, die deutsch-türkischen Beziehungen sind durch vielfältige, politische Herausforderungen geprägt. Das sollte aber kein Hinderungsgrund für den kommunalen Austausch sein. Denn dort geht es in erster Linie immer um zwischenmenschliche Begegnungen und das Lernen voneinander auf ähnlichen kommunalen Handlungsfeldern. Es geht also um das Verbindende und nicht das Trennende. Herausforderungen sind dazu da, gemeistert zu werden. Und die aktiven und lebendigen Städtepartnerschaften in Nordrhein-Westfalen zeigen uns, wie es geht. Mit Verständnis füreinander und Vertrauen in die gewachsenen Beziehungen, die durchaus unterschiedliche politische Standpunkte und begründete Kritik aushalten müssen und aushalten können.

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Die Festigung der Städtepartnerschaften in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit Kommunen und Zivilgesellschaft steht im Mittelpunkt unseres Projekts.

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